Armut bei Kindern auf den Philippinen

Ein Bericht von Dr. Gerhard Steinmaier über seinen Einsatz auf Mindanao

Vier Wochen im Buda-Hospital liegen hinter mir. Sie haben mir die besondere Art vom Umgang mit Krankheit und Tod gezeigt, wie er von armen Menschen hier auf Mindanao gepflegt wird. In unsere Sprechstunde kommen täglich viele Menschen durchaus mit Bagatell-Erkrankungen. Das “Andere” hier ist, dass bei der schlechten Ernährungslage und der damit verbundenen reduzierten Immunabwehr aus vermeintlich banalen Störungen schnell lebensbedrohliche Zustände erwachsen können. So haben wir erlebt, welche Auswirkungen Armut bei Kindern auf die Gesundheit haben kann: Kinder, die wegen Durchfall oder Husten bei Unterernährung stationär aufgenommen und scheinbar schon auf dem Weg der Besserung waren, sich plötzlich akut verschlechterten und einfach starben.

Unterernährung schwächt die Kinder

Das “Andere” ist auch, dass ein Patient niemals alleine aufgenommen wird. Eine unerlässliche Bedingung für die stationäre Behandlung ist, dass ein Watcher zur Verfügung steht, d.h. ein Angehöriger (Vater, Mutter, Oma, Ehemann oder -frau, ältere Geschwister oder Söhne/Töchter) muss den Kranken während des Hospitalaufenthalts begleiten und betreuen. Der Watcher kümmert sich um die Körperpflege, sorgt über das Krankenhausessen hinaus (kein Mensch in Deutschland würde sich sowas zumuten lassen!!) für die Ernährung und besorgt z.B. Windeln für die Säuglinge. Er schläft mit seinem Patienten immer im selben Bett, oft ohne Matratze, fast immer ohne Decke.

Armut bei Kindern auf den Philippinen

Die Armut bei Kindern ist auf den Philippinen besonders groß

Anders ist hier auch, dass die Patienten unsere Sprache und wir Ärzte deren Sprache nicht verstehen. Mit der Sprache verbunden ist es auch schwer bis fast unmöglich, die Kultur des jeweils anderen zu verstehen. Mütter sind mit unglaublich großer Geduld ihren Kindern zugewandt, sie tragen die Kleinen bis zum 3. oder 4. Lebensjahr unablässig mit Tüchern an sich selbst festgebunden mit sich herum oder sitzen stundenlang – die Kinder auf dem Schoß – im Bett. Wenn sie nicht wieder schwanger sind, haben ihre Kinder jederzeit und überall Zugriff auf ihre Brust, und die sonst sehr schamhaften Frauen haben überhaupt kein Problem damit, ihre Brust zu entblößen. Dieselben Mütter sehen ganz offenbar in ihrem Zuhause tatenlos dabei zu, wie ihre unterernährten Kinder langsam verhungern. Das ist eine für mich kaum zu verstehende Diskrepanz. Erklärbar wird es nur, wenn man weiß, dass die Familien der Natives oft aus 10 und mehr Kindern bestehen und die Mütter anscheinend nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Solange das breastfeeding noch praktiziert werden kann, geht es noch, aber spätestens wenn die Muttermilch als Ernährung nicht mehr ausreicht, wird es problematisch. Die kleinen Kinder bekommen als Hauptnahrungsmittel Lugaw, das ist mit reichlich Wasser zu Brei zerkochter Reis. Fleisch, Fisch, Ei oder gar Gemüse werden höchstens einmal in der Woche beigemischt – Armut bei Kindern gehört auf den Philippinen zur Tagesordnung. Man muss wissen, dass selbst ein Erwachsener neben zwei Tassen Reis vielleicht vier kleine Stückchen Fleisch (wie Gulaschwürfel) oder das Kopfende eines kleinen Fischs, manchmal auch ein Ei, als Hauptnahrung bekommt. Schwer verständlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Bergbewohner ihre reichlich vorhandenen Hühner gerne verkaufen, um sich mit dem Erlös dann gesalzenen und getrockneten Fisch zu kaufen. Dieser Fisch ist für mich wegen des hohen Salzgehalts ungenießbar. Vielleicht liegt es daran, dass ein geschlachtetes Huhn aufgegessen werden muss, bevor es verdirbt, während ein Salzfisch ohne Weiteres eine ganze Woche und länger hält.

Als Arzt auf den Philippinen

Während der Sprechstunde

Auf Tour mit der Rolling Clinic

Die vergangenen Tage in der Rolling Clinic haben mir viele der Besonderheiten in einem klareren Licht erscheinen lassen. Wir waren im Bezirk Marilog unterwegs, der einen Teil von Nord-Davao ausmacht. Es ist eine landschaftlich überwältigend schöne Gegend, bergig mit tiefen, schroffen Tälern, Flüssen, Urwald, riesigen Bananenplantagen, reich an Blumen, Bäumen, ein grünes, weitgehend unerschlossenes Land. Bewohnt wird diese Gegend von den Manobo, einem Stamm der Ureinwohner Mindanaos. Es sind recht kleine Menschen mit sehr dunkler Hautfarbe, mit schönen, ausdrucksstarken Gesichtern und großen, neugierig blickenden Augen. Sie wurden durch die Siedlungspolitik im vergangenen Jahrhundert durch die “weißen” Filipinos aus ihren ursprünglich bewohnten Gebieten verdrängt und haben sich immer weiter in die Berge zurückgezogen. Sie treiben dort in bescheidenem Umfang Landwirtschaft, leben aber angeblich auch noch in gewissem Umfang als Jäger und Sammler. Es wird immer wieder erzählt, die Menschen seien nicht wirklich sesshaft, sie ziehen in den Bergen umher (“they are roaming around”). Nicht selten findet man verlassene Hütten, die offenbar nicht mehr bewohnt werden.

Ambulanz auf Mindanao

Ambulanz im Freien

Während unserem Aufenthalt in Marilog werden wir vom Barangay-Captain auf seinem Grundstück beherbergt. Das ist durchaus für hiesige Verhältnisse luxuriös. In einem Nebenhaus, das dem Sohn gehört, bekomme ich ein Zimmer mit Bett und Aircondition, im Haus gibt es einen “Comfort room” (Toilette) mit fließendem Wasser, ich kann duschen (allerdings kalt) und es ist durchaus angenehm. Die Frauen meines Teams, Maricel (Hebamme) und Kenny (Krankenschwester) können die Küche benutzen und kochen Frühstück und Dinner für uns, wobei sich beide nach landestypischer Art nur durch den Kaffee zum Frühstück unterscheiden. Ansonsten gibt es immer Reis, Gemüse, Fisch, Fleisch und Obst. Von dieser Basis brechen wir jeden Morgen gegen 8 Uhr auf und fahren ein Stück am Highway, um dann nach rechts oder links in die Berge abzubiegen. Dort ist es dann mit Asphalt, Teer oder Beton auch bald vorbei und wir werden bei der Fahrt über rocky, rough and muddy roads von unserem alten Toyota mächtig durchgeschüttelt. Mehrfach müssen auch Flüsse überquert werden, zum Glück sind die Regenfälle der letzten Wochen schon wieder abgeflossen, sodass das Auto höchstens bis zum Fahrzeugboden eintaucht. Immer wieder wird der Allradantrieb gebraucht, um steile und matschige Abschnitte zu überwinden. Nach ein bis zwei Stunden Fahrt (höchstens 30 bis 40 Km Strecke) erreichen wir dann eines der Dörfer, wo wir in der Regel am Basketballplatz unsere Clinic aufbauen können. Einer der Tage hat eine walking-tour vorgesehen, nach Sumilop gibt es keinen für ein Auto zugänglichen Weg. Also wird der Wagen abgestellt, unser ganzes Equipment wird auf drei Pferde verladen und wir machen uns auf den Weg, ca.  eine Stunde auf schmalen Pfaden bergauf. Immer wieder begegnen oder überholen uns Motorräder, die mit mehreren Menschen und auch mit allen möglichen Frachtgütern beladen auf diesen holprigen Pfaden fahren. Sie sind neben Pferd und Karabau die einzig verfügbaren Verkehrsmittel und ich bewundere den Mut und die Geschicklichkeit der Fahrer, die es schaffen, ohne Sturz die ausgewaschenen Spuren zu nutzen.

Rolling Clinic auf den Philippinen

Untersuchung während der Rolling Clinic

Armut bei Kindern besonders sichtbar

Zur Clinic finden sich dann bald schon die Patienten ein. An neun Tagen habe ich insgesamt 569 gesehen. Viele davon kommen mit der Klage “cough and cold and runny nose, with fever last night” (ubo, sip-on, calentura) und haben oft nichts Greifbares. Wollen sie vielleicht die “Attraktion” als Abwechslung in ihrem Alltag nutzen, dabei die German Doctors bestaunen? Der Unterschied zum Viernheimer Wartezimmer wäre nicht sehr groß. Immer wieder findet sich aber jemand, der dringend ärztliche Hilfe braucht. 34 Kinder sind unterernährt. Die WHO unterscheidet MAM (moderate acute malnutrition) und SAM (severe acute maltnutrition) Kinder. Als Maß gilt neben dem Gewicht (weight for age) der MUAC (mittlere Oberarmumfang). Die brauchen besonders erhöhte Aufmerksamkeit, wie schon eingangs berichtet – denn Armut bei Kindern führt leider oft zu Magelernährung. Drei dieser 34 Kinder sind in einem bedrohlich schlechten Zustand, sie haben neben der Unterernährung (die übrigens niemals der Grund für die Vorstellung beim Arzt ist) zweimal Durchfall mit blutigem Stuhl und einmal eine Lungenentzündung. Zwei dieser Kinder nehmen wir samt Watcher am Ende unseres Besuchs im Auto mit und bringen sie nach Buda ins Hospital. Das dritte dieser Kinder müssen wir leider seinem Schicksal überlassen. Es ist sechs Monate alt und wiegt gerade mal 5,1 Kg. Die Mutter kam mit dem Kind (Durchfall) über zwei Stunden zu Fuß nach Sumilop, hat zu Hause weitere acht Kinder zurückgelassen und weigert sich auch nach ausführlicher Debatte unter Einbeziehung der örtlichen Health Worker standhaft, mit ihrem Kind nach Buda mit zu kommen. Ich berate sie nochmal ausführlich über die Notwendigkeit einer ausreichenden Ernährung und sie bekommt von uns für sechs Wochen als Nahrungsergänzung zur Muttermilch Nutrimix.

Unterernährung Philippinen

Unterernährung ist ein großes Problem

Oder die junge Frau (18 Jahre alt), die mit Unterstützung durch die “trained hilot” (eine native Heilerin und Hebamme) zu Hause ihr Kind geboren hat. Der Säugling ist acht Tage alt und wird vom Vater gebracht: Ich soll feststellen, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist und kann nichts Negatives finden. Erst zwei Stunden später stellt sich die Mutter vor: Sie hat drei Tage nach der Entbindung gemerkt, wie ihr Bauch wieder dicker wird, sie hat auch Schmerzen und Ausfluss. Fieber hat sie auch noch und im rechten Unterbauch kann ich eine derbe Masse tasten. Sie wird samt Kind und Mann auch bei uns aufgeladen und im Hospital bei unserer Gynäkologin abgeliefert.

Unterernährung Mindanao

Hilfe für die Kleinsten – Armut bei Kindern ist besonders schwer zu ertragen

Eine lehrreiche Zeit

Die Tage in der Rolling Clinic waren sehr interessant, ich habe viel gelernt, die Zusammenarbeit mit meinem Team hat Freude gemacht, und – das soll nicht verschwiegen werden – es ist natürlich auch ein großes Abenteuer. Am schlimmsten zu ertragen war allerdings die allgegenwärtige Armut bei Kindern. Trotz aller Unzulänglichkeiten, die mit den Einsätzen verbunden sind: Wenig Ausrüstung, Verständigungsschwierigkeiten, langer Abstände zwischen den einzelnen Besuchen, bin ich doch der Meinung, dass wir einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen leisten. Fast wichtiger als unsere unmittelbare ärztliche Tätigkeit scheint mir der Kontakt zu den local healthworkers und den nutrtion-partners zu sein, auch zu den jeweiligen politischen Ortsvorstehern, die alle an unseren Clinic-Terminen anwesend sind und mit denen wir intensiv das Gespräch suchen, um Wege zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung zu diskutieren. Ziel muss es sein, nicht als Medikamentenverteiler in die Dörfer zu kommen, sondern dort Strukturen zu unterstützen, die frühzeitige Gegenmaßnahmen bei drohenden Gesundheitsschäden einleiten.

Ein Wort noch zur Herzlichkeit und Freundlichkeit, mit der uns alle immer wieder begegnen. Ich habe mich hier bei allen Widrigkeiten sehr wohl gefühlt und für mich steht schon fest: Ich komme wieder!