Ein ganz normaler Arbeitstag im Slum

Ein Bericht von Dr. Christian Repp über seinen Einsatz in Kalkutta/Indien

Um kurz vor sieben klingelt mein Wecker. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit den anderen Kollegen geht es raus vor die Tür. Dort stehen schon unsere Teams und die Einsatzfahrzeuge bereit. Es ist Freitag, das heißt drei Doctors fahren in die Foreshore Road und die anderen drei nach Bojerhat. Zum Einsatzbeginn wird jeder Doctor einem Team zugeteilt, woraus sich dann die jeweiligen Einsatzorte ergeben – der Rhythmus ist jede Woche gleich und es gibt zur Zeit insgesamt sieben verschiedene Ambulanzen. Die Foreshore Road, an der wir vier Mal pro Woche arbeiten, ist ein umfunktionierter Hühnerstall in einem recht zentral gelegenen städtischen Slum hinter dem Ufer des großen Flusses Hooghly. Bojerhat ist ein ärmliches Dorf am östlichen Rand von Kalkutta, zwischen Reisfeldern und Lederfabriken, die Reise dorthin ist etwas weiter und wird nur einmal pro Woche unternommen. Für mich geht es heute also wieder in die Foreshore Road. Unser alter Mercedes-Bus kämpft sich durch das morgendliche Verkehrschaos der Andul Road, das gesamte Team von ca. 12 Leuten sitzt hinten drin, die ganze Ausrüstung (Medikamente, Impfungen, Verbandsmaterial, etc.) ist auch dabei.

Slum- Ambulanz der German Doctors

Unsere Ambulanz in der Foreshore Road

Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir die Ambulanz. Im Eiltempo werden die Kisten ausgeladen und alle Arbeitsplätze aufgebaut. Vor der Ambulanz warten schon sehr viele Menschen. Viele sind vermutlich schon seit Stunden dort um sich einen guten Platz in der Schlange zu sichern. Unser Mitarbeiter Vincent macht eine Durchsage über sein Megafon, um den Patienten die Abläufe zu erklären und schwer kranken Menschen evtl. das rechtzeitige Aufsuchen eines Krankenhauses nahe zu legen. Es bilden sich drei Reihen – Kinder mit ihren Müttern, Männer und Frauen. Danach kommt das Stempeln. Wir einigen uns darauf, dass wir mit 3 Ärzten heute ungefähr 120-130 Patienten versorgen können – je nach Kapazitäten am Nachmittag können noch mehr dazugenommen werden. Der Andrang im Slum ist von Tag zu Tag unterschiedlich. Leider sind heute vor allem bei den Frauen deutlich mehr in der Schlange, als wir vernünftigerweise schaffen können. Bei 40 ist also erstmal Schluss. Einem Kollegen fällt aber noch eine ältere Frau auf, die weiter hinten in der Schlange auf dem Boden sitzt und sehr krank aussieht, sie bekommt auch noch einen Stempelabdruck von mir und wird in der Schlange vorgezogen. Sofort drängelt sich noch eine Gruppe anderer Frauen um uns herum, alle fordern wild gestikulierend auch noch einen Stempel. Das Ablehnen fällt mir natürlich schwer, aber unsere Kapazitäten haben leider Grenzen und es gilt in Kalkuttawie auch sonst überall, dass eine vernünftige Versorgung nur möglich ist, wenn man sich auch genügend Zeit für jeden Patienten im Slum nehmen kann.

Registrierung der Patienten

Die Patienten werden registriert

Die ersten Patienten werden umgehend registriert und ich gehe mit meiner Übersetzerin Jhuma zu unserem Arbeitsplatz. Jhuma arbeitet schon seit vielen Jahren im Projekt. Ihre Motivation und Energie haben mich immer wieder beeindruckt, zumal sie sich alle 6 Wochen an einen neuen Doctor gewöhnen muss. Übersetzer sind nötig, weil die Patienten etwa zur Hälfte Analphabeten sind und fast niemand von ihnen Englisch spricht. Im Viertel um die Foreshore Road werden drei Sprachen gesprochen, was auch auf die Herkunft und den kulturellen Hintergrund der Patienten schließen lässt: Hindus aus der Region sprechen die örtliche Sprache Bengali, die vielen aus dem Nachbarstaat Bihar Eingewanderten sprechen einen Hindi-Dialekt, und viele Muslime sprechen hauptsächlich Urdu.

Meinen ersten Patienten heute muss ich gar nicht viel fragen. Er streckt mir seine linke Hand entgegen, sie ist geschwollen und mit einem schmutzigen Verband umwickelt. An mehreren Stellen schimmert Eiter durch. Aus einer kleinen Verletzung ist eine schlimme Handphlegmone geworden. In Deutschland würde man so jemanden sofort stationär aufnehmen, er würde sicherlich innerhalb weniger Stunden operiert werden. Aber in Kalkutta? Bei uns bekommt er ein orales Antibiotikum und einen frischen Verband. Außerdem schicken wir ihn in Begleitung einer unserer Mitarbeiter ins Medical College, die örtliche Uniklinik, wo er wenigstens ambulant einen Handchirurgen sehen kann – dort wird dann meist der Eiter drainiert, eine richtige Operation erfolgt in der Regel nicht. Im Slum gilt die Grundregel, dass Patienten nur stationär untergebracht werden, wenn sie sich nicht mehr allein auf den Beinen halten können.

Mein zweiter Patient ist ein 10jähriger Junge, der in Begleitung seiner Mutter reingehumpelt kommt. Schon seit 2 Monaten humpelt er, das rechte Knie tut ihm weh, am Knochen darunter ist eine harte Schwellung. Verletzt hat er sich nicht. Ich veranlasse sofort ein Röntgenbild in einem nahe liegenden Diagnostik-Zentrum, als unbefundeten „Wet Film“, damit der Junge schon in 2 Stunden mit dem Bild wieder zu uns kommen kann. Meine Kollegen und ich sind uns schließlich nicht sicher, ob der Befund im Röntgen einem Tumor oder einer Osteomyelitis entspricht. Wir entschließen uns gemeinsam zu einer Aufnahme auf unsere hauseigene Kinderstation, die von indischen Kinderärzten geführt wird und sich im gleichen Gebäude wie unsere Wohnung befindet. Dort kann auch leicht mal ein Spezialist dazugezogen werden. Ein paar Tage später stellt sich heraus, dass es sich „nur“ um eine Osteomyelitis handelte und der Junge mit oraler antibiotischer Therapie nach Hause entlassen wurde.

Nach diesen beiden Fällen war ich schon mal ziemlich geschafft. Unsere Möglichkeiten sind manchmal doch sehr begrenzt. Zum Glück kamen die nächsten Patienten mit Problemen, bei denen wir Doctors deutlich besser helfen können. Im Laufe des Vormittags sah ich noch viele Kinder, die meisten mit eher harmlosen Problemen – „cough, cold and fever“ oder Durchfall. Relativ häufig sind auch bakterielle Hautinfektionen und Scabies. Die wichtige Aufgabe besteht darin die Kinder herauszufiltern, die schwer krank sind und eine stationäre Versorgung benötigen. Doch bei denen ist es nicht immer leicht, die Angehörigen von der Notwendigkeit einer solchen Behandlung zu überzeugen. Viele Mütter sind an ihre häuslichen Verpflichtungen gebunden und können nicht mit ins Krankenhaus. Manche von ihnen willigen zunächst ein, gehen aber noch kurz raus um angeblich ihren Mann zu fragen und kommen dann nie wieder. Daher bekommen alle solche Patienten von uns auch Medikamente für eine ambulante Therapie mit.

Patienten der German Doctors

Ein Großteil der Patienten sind Kinder

Bei den weniger kranken Kindern werden die Impfungen überprüft, und je nach Bedarf werden Entwurmungen und Vitamin-Substitutionen durchgeführt. Fälle von Erblindungen durch Vitamin-A-Mangel und Rachitis durch die schlechte Ernährung und die fehlende Sonnenexposition in den engen Gassen im städtischen Hochhaus- Slum waren früher ziemlich häufig, werden aber auch heute immer wieder gesehen. Der ebenfalls häufige Eisen- und Zink-Mangel schwächt das Immunsystem und begünstigt Infektionen. Studien dazu haben gezeigt, dass eine gezielte Substitution die Morbidität und Mortalität von Kindern reduzieren und ihre körperliche und geistige Entwicklung begünstigen kann. Für deutlich mangelernährte Kinder besteht die Möglichkeit sie in ein Ernährungsprogramm aufzunehmen. Vor allem bei kinderreichen Familien oder jungen Müttern bespreche ich regelmäßig das Thema Familienplanung, hierfür stellen wir verschiedene Methoden der Kontrazeption zur Verfügung.

Eine kleine Patientin

Eine kleine Patientin mit „cough, cold and fever“

Am späteren Vormittag kommen vermehrt die erwachsenen Patienten dran. Viele von ihnen sind chronisch krank. Ihre Krankenakte bringen alle Patienten in Form von gelben Kärtchen mit, daraus erkenne ich dass viele schon seit Jahren bei uns in Behandlung sind. Ähnlich wie in deutschen Hausarztpraxen gibt es viele Fälle von Hypertonie, Diabetes und COPD. Vor allem die Häufigkeit von Diabetes erstaunt mich, dies ist in Indien auch genetisch bedingt. Viele Typ-2-Diabetiker sind noch relativ jung, und die meisten sind schlank. Immer wieder kommen auch Patienten mit Verdacht auf Tuberkulose, in verschiedensten Ausprägungen. Diese Seuche hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten in ihrer Häufigkeit verringert, bestimmt aber immer noch das Schicksal vieler Familien. Für viele ist die Krankheit ein Stigma, so dass Symptome und Vorgeschichte oft verschleiert werden und Diagnose und Therapie deutlich erschwert sind. Für die Therapie sind letztendlich die örtlichen „TB-Doctors“ zuständig, wir sind hierbei vor allem für das Herausfiltern und Vermitteln zuständig. Bis zur Mittagspause habe ich schon drei Patienten mit chronischem Husten zur Sputum-Untersuchung geschickt, einen davon noch zusätzlich zum Röntgen. Um 13 Uhr setze ich mich schließlich mit meinen Kollegen zusammen. Zum Essen haben wir wie immer eine Lunch-Box mitbekommen, mit leckerem Chapati und verschiedenen Gemüse-Curries.

Mein erster Patient nach der Mittagspause wedelt mit seinem Röntgenbild, was ich am Morgen veranlasst hatte. Der Rikscha-Fahrer hat sich tatsächlich eine Mittelhandfraktur zugezogen, als das Taxi seine linke Hand gestreift hat. Ich bespreche mit unserer Verbandsschwester was sie für einen Gips machen soll und verschreibe noch ein paar Schmerzmittel für die nächsten Tage. Der nächste Patient ist auch Rikscha-Fahrer. Vor ein paar Tagen sei ihm beim Beladen seiner Rikscha ein riesiger Stoffballen auf den Kopf gefallen. Seitdem tut ihm sein Kopf ein bisschen weh, sonst habe er keine Probleme. Auch er wird mit Schmerzmitteln versorgt. Im Laufe des Nachmittags kommen auch mehrere Frauen, die über diffusen „Body Pain“ klagen. Wenn ich mir so anhöre mit welchen Tätigkeiten  sie ihre Tage im Slum verbringen, wundert mich das kaum. Viele von ihnen sehen kaum jemals die Sonne, und manche wirken auch etwas depressiv. Außer Empfehlungen zur körperlichen Betätigung, Calcium-/Vitamin-D-Substitution und Schmerztherapie habe ich aber keine wirklich sinnvollen Optionen.

Ein 35jähriger Mann kommt zu mir wegen zunehmender Dyspnoe. Er hat eine bekannte rheumatische Herzerkrankung und ihm sind vor ein paar Tagen die Medikamente ausgegangen. Seine mitgebrachten Befunde sind schockierend. In seinem jungen Alter ist sein Herz schon so schwer geschädigt, dass er wohl nicht mehr viele Jahre zu leben hat. Ein operativer Klappenersatz mit den anschließend nötigen Therapien führt unter Slum -Bedingungen erfahrungsgemäß zum Desaster, so dass auch hier nur eine Weiterführung und regelmäßige Optimierung der medikamentösen Therapie möglich ist. Ein sehr trauriger Fall, der allerdings nicht ungewöhnlich ist – ich denke mir, wie einfach es gewesen wäre solch eine Situation zu verhindern, wenn man die auslösende Erkrankung im Kindesalter nur rechtzeitig behandelt hätte!

German Doctors in Indien

Mein Arbeitsplatz in der Ambulanz

Die größte Herausforderung des Nachmittags ist eine ältere Dame, die schon seit Jahren bei uns mit ihrem Diabetes in Behandlung ist. In der letzten Kreatinin-Kontrolle hat sich eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion gezeigt, so dass eine Therapie mit Tabletten nicht mehr möglich ist. Ich veranlasse also eine Umstellung auf Insulin und brauche eine gute halbe Stunde, um der Patientin die Therapie zu erklären und zu demonstrieren. Eine Insulin-Therapie im Slum birgt Probleme, an die man in Deutschland nicht denken muss: Wo kann man das Insulin kühl halten? Wie entsorgt man die Spritzen? Und wer aus der Familie kann ihr beim Aufziehen der Spritze helfen, da die Patientin nicht nur schlecht sieht, sondern auch Analphabetin ist? Ich bin etwas skeptisch, aber bei anderen Patienten hatte ich schon gesehen dass solche Probleme oft erstaunlich gut in den Griff zu bekommen sind. Gegen 16:30 Uhr ist kein Patient mehr vor der Ambulanz. Wir haben es in unserem Team tatsächlich geschafft, die ganze große Menschenmenge vom frühen Morgen zu versorgen. Jhuma und ich räumen unseren Arbeitsplatz auf und setzen uns zu den anderen in den Transporter, eine gute Stunde später bin ich zu Hause. Meine Kollegen aus den anderen Einsatzorten sind schon da, und wir tauschen uns über die interessantesten Fälle des Tages aus.

Unsere Patienten kommen insgesamt aus sehr armen Verhältnissen. Oft sind ganze Großfamilien von den Einkünften des Familienvaters abhängig, der sich oft bis zur völligen Erschöpfung als Tagelöhner oder Rikschafahrer durchschlägt. Die Frauen kümmern sich in der Regel voll und ganz um die Versorgung der Familien, viele sind aber noch nebenher auf dem Feld oder z.B. im Straßenbau tätig – schwerste körperliche Arbeit ist auch für Frauen nicht ungewöhnlich. Bei Kindern frage ich oft nebenbei, ob sie zur Schule gehen – manche ja, andere nein. Ich denke mir, dass ich vielleicht allein durch die Frage die eine oder andere Familie dazu motivieren kann. Ein Urteil kann ich mir aber darüber nicht erlauben, weil ich die genauen Hintergründe in der Regel nicht kenne. Bildung wird in Indien allgemein als großer Wert angesehen, aber in manchen Familien sind die Türen dahin einfach noch verschlossen. Religion spielt bei den meisten meiner Patienten eine große Rolle, so dass viele Missstände eher als schicksalhaft und gottgewollt interpretiert werden, als es in unserem Kulturkreis der Fall wäre. So bleibt meine Feststellung, dass es mir schwer fällt die Lebensumstände meiner Patienten richtig zu verstehen und nachzufühlen, trotz der ständigen Konfrontation damit. Ebenso habe ich mich oft gefragt, wie die Patienten uns Doctors wahrnehmen, mit unserer westlichen Medizin und unserem eher naturwissenschaftlich-mechanistischem Weltbild.

Die Standorte der Ambulanzen sind so gewählt, dass vor allem die untersten Bevölkerungsschichten von uns versorgt werden können. In einer sich rasch entwickelnden Metropole wie Kalkutta ändern sich daher die Einsatzorte auch immer mal wieder, das Projekt bleibt also immer dynamisch. Das Ziel für uns German Doctors wird sein, dass wir eines Tages in Kalkutta komplett überflüssig sind. An der Sinnhaftigkeit meines Einsatzes und unserer Arbeit habe ich jedoch nach abschließenden Überlegungen keine Zweifel. Indien hat gute Krankenhäuser und exzellent ausgebildete Ärzte. Es gibt jedoch kein Versicherungssystem, so dass die Bezahlung immer direkt durch die Patienten erfolgt. Daher ist es verständlich, dass viele Ärzte ihre Tätigkeiten zumindest teilweise auf lukrative Privatkliniken konzentrieren oder sogar ins Ausland gehen. Die Basisversorgung von armen Patienten aus dem Slum ist für indische Ärzte mit finanziellen Einbußen verbunden, und daran kann sich in naher Zukunft auch nichts ändern, selbst wenn der indische Staat entsprechende Programme fördern sollte. Ein Großteil unserer Patienten in Kalkutta hätte aktuell ohne unsere Arbeit einfach überhaupt keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.