Interkulturelle Behandlung

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Sabine Waldmann-Brun aus Sierra Leone

Baby Rose, 35 Jahre alt, hatte mit dem Motorradtaxi einen Unfall. Sie ist Ehefrau und Mutter. Bei der Fahrt über die löchrigen Buckelpisten, ohne Helm und Schutzkleidung, ist dies ein häufiger Unfall und oft werden Patienten mit dieser Vorgeschichte eingeliefert. Einzige vorhandene Schutzkleidung sind oft eine Wollmütze, eine normale Brille und eine Winterjacke. Baby Rose hat sich am Auge verletzt (zum Glück nur eine Prellung ohne Sehminderung), am rechten Fuß ist eine tiefe Schnittwunde, am linken Bein ist der Oberschenkel gebrochen. Da der Ehemann der Patientin ein Krankenhausmitarbeiter ist, war es ihnen finanziell möglich, ein Röntgenbild in der nächstgrößeren Stadt erstellen zu lassen. Dabei hat sich gezeigt, dass der Oberschenkelknochen im Schaft gebrochen ist. Nun liegt sie in einem der kleinen Privatzimmer. Schrauben oder Nägel zur Fixierung des Knochens gibt es in diesem Krankenhaus nicht; Was können wir also tun?
Die Wunde wird gereinigt und verbunden; Sie wird gut verheilen. Ein Zugsystem anzulegen, wäre eine gute und einfache Möglichkeit, damit das Bein in einer Position fixiert wird, in der es heilen kann. Aber die Patientin möchte auf keinen Fall, dass ein Draht am Unterschenkel durch den Knochen gelegt wird. Zunächst wird von der Familie die Alternativmedizin angefordert: Eine Heilerin stellt sich vor. Die recht beleibte, etwa fünfzigjährige Lady platziert in geschickter Routine eine Kräutermischung im Bereich der Haut über der Fraktur und umwickelt das Bein mit Stoff und Schnüren. Es entsteht ein ca. 50 cm langes Päckchen in Bruchhöhe. Die Patientin ist fürs erste zufrieden. Die behandelnde Chirurgin kann sich mit dieser Variante einer lokalen Ruhigstellung gut anfreunden, hat allerdings Bedenken bezüglich der Achsenstellung: Im Liegen kippt das Bein immer wieder zur Seite ab, wodurch zu viel Bewegung über dem Bruchspalt ist. Es besteht das Risiko, dass sich ein Falschgelenk bildet. Sie bespricht dies mit der Patientin. Zum Glück kann diese gut Englisch und so einigt man sich darauf, dass die Fixierung des Fußes auf einer Schiene eine gute Ergänzung zu dem Werk der traditionellen Heilerin wäre. Die Ärztin sichtet die Kisten mit Spenden aus aller Welt und findet eine prächtige Schiene mit Kunstfellbesatz und drei Klettverschlüssen, um den Fuß in Position zu halten. Dann findet sich noch ein seit vier Jahren abgelaufenes Klammergerät für minimal invasive Darmoperationen (die an diesem Krankenhaus sowieso nicht durchführbar sind), das als langer Stiel zur Kippprophylaxe seitlich an der Standfläche montiert wird. Nun fehlt noch ein Gewicht: Die Stationsschwester schlägt vor, 2 Liter Infusionslösung in Plastikflaschen dafür zu verwenden. Da die Flaschen in einem Plastikbeutel verpackt am Fußende hängen, nehmen Sie dadurch keinen Schaden und werden weiterhin verwertbar sein, ziehen aber das Bein leicht in die Länge. Die Patientin schaut sich erfreut die Konstruktion an. Die Funktion der Einzelteile wird erklärt. Das System hat zugegebenermaßen kleine Schwächen, aber das Bein ist auf diese Weise in guter und stabiler Position, Zehen und Fußgelenke bleiben beweglich und können weiterhin trainiert werden, während die korrekte Achsenstellung erhalten bleibt. Baby Rose strahlt. Auch die Chirurgin freut sich. Ist diese etwas schräge Kombination (off-label-use, Zweckentfremdung und Recycling) aus traditioneller und moderner Medizin ein gelungenes Beispiel für interkulturelle Zusammenarbeit?
Drei Tage nach dem Unfall wird die Patientin bei der Visite „ganz ohne“ angetroffen: Die Heilerin hat die Wickelung entfernt und damit die lokale Stabilisierung. Das Zugsystem wurde zu diesem Zweck abgebaut und nicht wieder fixiert. Baby Rose erklärt, dass die traditionelle Behandlung in verschiedenen, zeitlich begrenzten Phasen ablaufen muss. Wie schade, denkt die Ärztin, dass die lokale Wickelung nicht wenigstens für zwei Wochen beibehalten werden kann. Die traditionelle Medizin ist ein tief verwurzeltes, altes Massiv. Die Berührung der modernen Medizin aus Deutschland mit der traditionellen Medizin scheint zuweilen wie die Spur einer Ameise auf einem Bergrücken. Aber Baby Rose versteht auch die Argumente der deutschen Ärztin. Sie möchte das Zugsystem behalten. Vielleicht, hofft die Chirurgin, wird eine Ruhigstellung in einer Achse ausreichen, mit Glück dazu (denn es gibt keine Medikamente zur Thromboseprophylaxe) und dem Verständnis der Patientin.
Die Wunde am rechten Fuß heilt gut, das Auge schwillt ab und ist nicht beeinträchtigt. Die Heilerin besucht regelmäßig die Patientin und erneuert die Einreibungen mit einer Kräutermischung, die als feines, graugrünes Puder den Oberschenkel bedeckt. Baby Rose behält nun das improvisierte Zugsystem bei und trainiert mit Zehen und Fußgelenk; Wenn auch immer wieder einmal der Beutel mit den Gewichten auf der Matratze liegend entdeckt wird und wieder aufgehängt werden muss. Nach drei Wochen möchte die Patientin nachhause verlegt werden. Das Zugsystem soll sie auf eigenen Wunsch dorthin begleiten. Auch der Ehemann ist zum abschließenden Gespräch anwesend. Die Ärztin hofft und wünscht, dass die Kombination dieser ungewöhnlichen Therapieansätze Baby Rose ermöglichen wird, ihr Bein nach dem Unfall irgendwann in nicht zu ferner Zukunft ohne größere Schmerzen wieder belasten zu können.
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Von Dr. Sabine Waldmann-Brun, die in Sierra Leone im Einsatz war.