Schnell einen Wundverband, bitte.

Ein Bericht von unserem Einsatzarzt Dr. Anno Diemer aus Mindanao.

„Dr. Anno, next patient only for wound dressing!“, so meldete mir meine Helferin und Übersetzerin Emeliza im Armenhospital von Cagayan de Oro, Mindanao, meinen nächsten Patienten an. Der Kleine lief frei, hatte aber am rechten Bein zwei teils narbig eingezogene Hautdefekte, aus denen klare Flüssigkeit lief. . . Also nichts für nur einen schnellen Verband! Die Mutter wußte, daß da vor 7 Monaten wohl ein Skorpionstich am Außenknöchel gewesen war, der aber nur ein paar Tage mit einem Antibiotikum – wenn es denn eines war – behandelt worden sei. Und die zweite „Wunde“? Die habe sie erst vor 3 oder 4 Tagen bemerkt! Da war Schlimmes zu befürchten. Ich verlangte ein Röntgenbild, aber „wet film, please!“ – „nasser Film“, das bedeutete, dass ich das Bild als erster und am selben Tag sehen würde, – und damit mindestens einen Tag früher das Ergebnis hatte. Es war wie befürchtet: eine schwere Infektion hatte das Wadenbein, den äußeren der beiden Unterschenkelknochen, weitgehend zerstört, und durch die „Wunden“ entleerte sich Flüssigkeit aus der Tiefe der Herde! Damit gehörte mein Patient als Notfall in die Chirurgie! Das nächste Problem: wie geht das, wenn keine Versicherung besteht und die Mutter nicht ohne weiteres mit aufgenommen werden kann, da sie ja die Familie mit Kindern zu versorgen hat? Dann muß ein anderes Familienmitglied kommen, denn ohne „watcher“, eigentlich „Beobachter“, die jedem stationären Patienten auf den Philippinen zugeordnete Pflegekraft, ist die stationäre Aufnahme unmöglich. Außer um die Pflege muß sich der Watcher auch um die Ernährung des Patienten kümmern. . . Würde der Vater, der bei der Untersuchung nicht zugegen war, überhaupt einverstanden sein?
Auch nach zwei Wochen, die ich schon in der Ambulanz mitarbeitete und einige knifflige Fragen geklärt hatte, war das ein ziemlich schwieriges Problem. Ich war froh, auf die bewährte Hilfe von „Dr. Martin“, dem deutschen Langzeitarzt des Hospitals, nicht verzichten zu müssen. Aber auch er brauchte in diesem Fall lange, konnte aber eine vertretbare Lösung erreichen – gottlob spricht er fließend Cebuano!
Überhaupt waren die ersten beiden Wochen eine spannende Zeit, in der ich tagtäglich eine Fülle von neuen Erfahrungen machte. Es war ja mein erster Einsatz in einem Drittweltland! Nicht nur, was die unmittelbare medizinische Versorgung anging – es war nicht immer einfach, herauszubekommen, was den Patienten wirklich fehlte. Oft kam zu Beginn des Gespräches eine knappe Feststellung, z.B. „back pain“ Rückenschmerzen), und erst auf genaueres Fragen dann nähere Details oder Erläuterungen. Nach diesem Punkt kam gern ein weiterer, etwa „cough and cold“ (Erkältung und Husten), sehr häufig in dieser Jahreszeit. Keinesfalls durfte jetzt die Frage nach der Dauer des Hustens vergessen werden, sind doch unerkannte Tuberkulosen in der Bevölkerung sehr verbreitet, und ab 2 Wochen Dauer des Hustens muß diese Infektion ausgeschlossen werden. Da es aber eine Erkrankung ist, die den Betroffenen gesellschaftlich isolieren und sogar den Job kosten kann, wird kaum jemand von sich aus einen entsprechenden Verdacht äußern! Hier kommt man dann besser über allgemeine Fragen nach der Wohnumgebung oder Dritten, die vielleicht schon länger husten, weiter. Jedenfalls sah ich Woche um Woche mehrere Patienten erstmals mit Tuberkulose, sei es der Lunge, der Lymphknoten, Wirbelsäule oder anderer Lokalisation.
Manche Schwierigkeit ergab sich auch durch die Übersetzung, die ja eine Zusammenfassung und unvermeidliche Änderung der Äußerung des Patienten ergibt. Das wurde mir sehr deutlich, als Emeliza einmal für ein paar Tage von einer gleichfalls sehr erfahrenen Kollegin vertreten wurde.
Auf den weiten Überlandfahrten der „Rolling Clinic“ staunte ich nicht wenig, über welche Entfernungen unsere Patienten zur Untersuchung kamen, und das in der Regel zu Fuß – aber fast immer mit sehr sauberer Kleidung! Dabei kamen öfter Menschen in eher schlechtem Zustand zu uns, die irgendwie diese Wege auch zurückgelegt hatten. . .
Bei der Rolling Clinic hatten wir von unserem zentral gelegenen Ausgangsort in Arakan täglich Entfernungen zwischen 10 und 28 km zurückzulegen – mit Fahrzeiten bis über zwei Stunden über schlamm- und geröllbedeckte Pisten, zum Teil durch Bananenplantagen.

2014_02_vollgepackter Wagen für Rolling Clinic
Der Wagen ist gepackt – gleich kann die Rolling Clinic losgehen.

2014_02_Rolling Clinic legt beschwerliche Wege zurück
Die Fahrten gehen querfeldein übers Land – betonierte Straßen gibt es da kaum.

2014_02_Andrang bei den Wartenden
Der Andrang der Patienten in den Dörfern ist groß!

Bei diesen Untersuchungen fiel eine große Zahl älterer und infizierter Verletzungen ins Auge, daneben große Kropfbildungen, Harnwegsinfektionen und einzelne Patienten mit bösartigen Tumoren, die wir versuchten in der großen Stadt Davao unterzubringen. Ein Patient mußte wegen einer schweren, leider schon eine Woche alten Hornhautverletzung des Auges dringend in die Klinik. Insgesamt drei Kleinkinder fielen wegen Mangelernährung in einer noch eher leichten Form auf, so daß wir hoffen durften, durch Mitgabe einer speziellen Zusatznahrung eine Besserung zu bewirken. Klar, daß diese Kinder zur nächsten Rolling Clinic wieder einbestellt wurden! Im Einzelfall blieb aber nichts anderes übrig, als zunächst per Foto die Grundlage für eine spätere Begutachtung durch Dermatologen bzw. Onkologen zu schaffen, damit der Patient dann mit Hilfe der Bonner Zentrale gezielt bei der nächsten „Rolling Clinic“ weiter versorgt werden kann.
Ein ganz starker Eindruck in den Dörfern war die Freundlichkeit der Aufnahme, denn außer mir kannten sich die meisten aus dem Team und etliche Dorfbewohner von früheren Fahrten her persönlich. Das sorgte immer für eine gute Atmosphäre und ich empfand das als stark motivierend. Auch wirkte sich das persönliche Interesse besonders der Hebammen, die im Dorf eine erhebliche Bedeutung haben, und, soweit vorhanden, der Health Worker günstig aus. Bei den allermeisten Patienten war eine große Dankbarkeit zu spüren, auch dann, wenn wir nach meiner Einschätzung nicht viel für sie hatten tun können.
Als Kinderarzt bin ich mit entsprechendem Hintergrund in dieses Projekt gegangen. Das ist bei einer so jungen Bevölkerung sicher auch eine besonders praktische Vorbildung. Die Vielfalt der Anforderungen und klinischen Fragen auch bei den Erwachsenen tat mir aber sehr gut, wie ich schon bald feststellen konnte und heute tue ich mich entsprechend auch im allgemeinmedizinischen Bereich und in Fächern wie Augenheilkunde, Dermatologie, Gynäkologie oder HNO leichter, wenn es um die Erkennung offenkundig wichtiger Befunde geht. Nebenbei konnte ich Einblicke in dieses ferne südostasiatische Land in der Zeit tun, in der in Deutschland Advent, Weihnachten und Neujahr gefeiert werden. Es war höchst reizvoll, Stadt und Land so ganz anders wahrzunehmen – und auch die Möglichkeit, zu Neujahr bei über 25° im Pazifik zu baden.

2014_02_Dr. Anno Diemer bei der Untersuchung

Daher ziehe ich für mich insgesamt eine sehr positive Bilanz des Einsatzes, der mir enorm viel gebracht hat an menschlichen Begegnungen mit Kollegen, im therapeutischen Team und mit den Patienten, an wichtigem medizinischem Wissenszuwachs und einer Fülle von unvergeßlichen Eindrücken von Land und Leuten. Schließlich hat es die Rolling Clinic ja auch möglich gemacht, Teile der Insel Mindanao einmal zu erleben, die sonst für normale Reisende unzugänglich sind.
Es hat mich also gepackt, und weitere Einsätze werden folgen!
Herzliche Grüße
Ihr Dr. Anno Diemer